Warum Trauer bunt ist - Neuerscheinung von Anke Keil im Herbstprogramm des Vier-Türme-Verlags
Trauer zu empfinden heißt nicht einfach nur traurig zu sein. Da sind Erinnerungen, Schmerz, Ohnmacht, Unsicherheit und Liebe. Da sind mehr Farben als nur schwarz – denn Trauer ist bunt. Jede Farbe steht dabei für einen Aspekt dieses vielschichtigen Gefühls, das oft so schwer zu fassen ist.
Anke Keil ist diesen Trauerfarben nachgegangen und hat sie in berührende Texte einfließen lassen, die Trauernden aus dem Herzen sprechen. Zu jeder Farbe gibt es eine Anregung, eine Körperübung oder einen Schreibimpuls. Die Übungen helfen, sich mit den Texten auseinanderzusetzen und die Vielfarbigkeit der Trauer besser zu begreifen. Es geht aber auch um Resilienz und das Entdecken und Nutzen eigener Ressourcen, um mit der Trauer leben zu lernen.
Die Vier vom Vier-Türme-Verlag an: Anke Keil
1. Verlag: Was hat Sie dazu inspiriert „Farben der Trauer“ zu schreiben?
Anke Keil: Das Buch ist gewachsen aus meiner Praxis als Trauerbegleiterin – am meisten geprägt ist es von meiner Zeit mit einer Trauergruppe für Junge Erwachsene, bei der die Farbtexte zum Abschluss der gemeinsamen Gruppenzeit zum ersten Mal zum Einsatz kamen. Es sind aber auch eigene Erfahrungen eingeflossen und andere Trauergespräche, Worte, Bilder und Vergleiche, die Trauernde benutzten ebenso wie Worte aus Trauermodellen. In der Gruppe hat jede und jeder der TeilnehmerInnen zum Abschluss die eigene biografische „Trauerschnur“ geflochten – und in verschiedenen Abständen jeweils die passenden Perlen hineingeflochten für Momente, Erfahrungen oder Erkenntnisse, die sich irgendwie auf diesem ganzen Weg für sie persönlich herausgehoben haben. Vielleicht weil sie so schwer waren. Vielleicht auch, weil sie im Gegenteil etwas ganz Leichtes hatten. Zu diesen Farbtexten kamen dann die Anregungen und Impulse dazu, die ich allerdings im Vergleich zur Trauerarbeit vor Ort so abgewandelt habe, dass sie ohne viele „Requisiten“ für jeden möglich sind. Denn das finde ich wichtig: Erfahren. Einüben. Alltagstauglichkeit.
2. Verlag: Was sind Streifentage?
Anke Keil: Ich habe in meinem Kopf und in einer unordentlichen Zettelbox eine ganze Sammlung von Wörtern, die ich besonders finde, die etwas besonders gut zum Ausdruck bringen. In diese Sammlung hat es auch der Ausdruck „Streifentage“ geschafft aus dem Buch „Wie lange dauert Traurigsein?“ von Maria Farm. Streifentage sind für mich die Tage, an denen man nicht genau weiß, was man ist. Wenn Dinge irgendwie schön sind und schrecklich, traurig und lustig. Streifentage sind auch, wenn man morgens guter Dinge aufwacht und plötzlich die Stimmung umspringt. Oder wenn man denkt, dass es schön wäre, einen großen Spaziergang in der Sonne zu machen und bereits nach 10 Metern denkt, dass man hier ganz und gar falsch ist, Sonne und Frühling und Bäume auch überhaupt nicht leiden kann. Für mich sind das die Tage, in denen man lernt, dass die Welt nicht entweder-oder ist. Und dass man selbst auch überhaupt nicht so eindeutig ist. Das ist ein oft sehr schmerzhafter Prozess in der Trauer: Wenn man sich nicht einmal mehr auf sich selbst verlassen kann. Man nicht mehr weiß, was einem guttut. Man einfach unkontrolliert in unterschiedlichste Gefühlslagen springt und sich selbst nicht verstehen kann. Die einzige Antwort, die auf die Streifen passt, ist meiner Meinung nach das Wort „und“. Es ist mir eines der wertvollsten Trauerwörter überhaupt. Dinge sind schön und traurig. Und es kann gut sein, in der Sonne zu stehen – und manchmal eben auch nicht. „Und“ ist für mich ein Wort wie eine Wäscheklammer – ich kann damit immer noch was dazu hängen zu dem, was ich über mich weiß, glaube oder hoffe.
3. Verlag: Was sind „Rot-Momente“ in der Trauer? Und was hilft, wenn man diese Farbe spürt?
Anke Keil: Rot ist die Farbe von starken Emotionen – nicht umsonst werden die meisten Herzen in Rottönen gezeichnet. Denkt man Trauer als Kehrseite der Liebe, so ist klar, dass Rot eine Farbe der emotionalen Verbindung ist. Und diese hat eine sehr ambivalente Kraft: es kann schön sein, sich zu erinnern, die Wärme und Liebe wieder zu empfinden. Es kann aber auch in einen tiefen Vermissensschmerz führen und fast verzweifeln lassen angesichts dieses Schmerzes. Gegen Vermissensschmerz gibt es wahrscheinlich keine Lösung – denn es fehlt ja tatsächlich jemand. Aber es kann helfen, sich Verbindungen zu suchen, den Bindungen Ausdruck zu geben, die man in sich spürt. Vor dem Tod ging das direkt, man konnte telefonieren, miteinander sprechen, sich Liebe angedeihen lassen, indem man vielleicht für den anderen kochte, ihn umsorgte. All diese Gesten sagen letztlich: Du bist mir wichtig. Ich bin gerne mit dir zusammen. Nach dem Tod braucht es neue Gesten, Zeichen und Orte für dieses Du-bist-mir-wichtig und Ich-wäre-weiterhin-gerne-mit-dir-zusammen. Manche Menschen bringen ihre Verbindung zum Ausdruck, indem sie Blumen ans Grab bringen, andere schreiben, nehmen Fotos, gehen an gemeinsame Lieblingsplätze. Verbindungen sind so unterschiedlich wie die Personen, mit denen wir uns verbunden fühlen
4. Verlag: Was möchten Sie Ihren Leserinnen und Lesern mit auf den Weg geben?
Anke Keil: Ich glaube, das wichtigste ist für mich eine Ermutigung: Vertraut den Wegen, die die Trauer euch führen wird. Sie ist unser inneres Programm, auf Verlust zu reagieren – in allem Verwirrenden, Überraschenden, den Pausen und den Abstürzen, dem Leichten und Schweren steckt letztlich ein Weg verborgen. Vertraut dazu auch euch selbst, eurem inneren Können, etwas zu bewältigen – auch wenn man oft nicht genau weiß, wie das gehen kann.
Anke Keil studierte Theologie und Allgemeine Rhetorik. Sie ist als Trauerbegleiterin im Hospiz tätig und lebt mit ihrem Mann und ihren vier Kindern in Esslingen. Nachdem 2015 eine Tochter still geboren wurde, gründete sie zusammen mit ihrem Mann eine Selbsthilfegruppe für frühverwaiste Eltern.